Teil IV

Marathon läuft man nicht nur mit den Beinen
Geschenkte Minuten durch Verstand

Taktik, ein großes Wort. Unter dieser Formel ließen und lassen Feldherren Heerscharen von ihren Soldaten dahinmorden, um dann die Mörder auf möglichst listige Weise in noch größerer Anzahl ins Jenseits zu befördern. Ehefrauen luchsen ihrem Angetrauten mit einer ausgeklügelten Strategie einen neuen Pelz ab und gehen dabei taktisch so geschickt vor, daß der Betroffene am Ende meint, er wäre derjenige gewesen, der seine ständig über stinkende Trainingsklamotten motzende Gattin mit diesem tierischen Haarkleid beglücken wollte. Schachspieler rühmen sich, die hohe Kunst des taktischen Verhaltens auf das höchste Niveau gestellt zu haben. Dieses Spiel der Könige - oder sollen wir lieber sagen, das Spiel der Generäle - ist ja nichts weiteres als eine spielerische Schlacht auf dem Brett mit Figuren, die angreifen, verteidigen, siegen oder geopfert werden. Bei ganz naher Betrachtung hat also Taktik doch etwas mit Krieg, mit Kampf zu tun.

Die Strategie des Marathonlaufs

Auch der Marathonlauf erfordert eine Strategie und kann taktisch geprägt werden. Nun hört aber alles auf! Unser schöner Sport, Schlacht, Krieg, Militär und sonst noch was! Oder? Sind doch die Grundsätze der Taktik: Einsatz der angemessenen Mittel, Tarnung und Täuschung, Fähigkeit der Anpassung an veränderte Situationen, Bildung von Schwerpunkten, Vermeidung einer Zersplitterung der Kräfte und Initiative.

Na ja, vielleicht doch, kommt ja eigentlich alles hin. Im Wettkampf brauchen wir alle diese Dinge. Wobei uns eins klar sein muß, gegenüber den taktischen Möglichkeiten wie sie z.B. die großen Sportspiele zulassen, sind unsere Variationsmöglichkeiten sehr gering. Wer jemals intensiv eine Mannschaftssportart wie Handball, Basketball oder auch Fußball ausgeübt hat, weiß das. Dennoch, wir haben die Fähigkeit, durch kluges taktisches Verhalten einige Minuten im Rennen geschenkt zu bekommen.

Nichts macht mich in meiner Trainingsgruppe so wild, wenn ich sehe, wie hart die Burschen und Mädchen trainieren und vor oder im Rennen machen sie eklatante taktische Fehler und gehen ganz jämmerlich ein. Da kann mir schon mal "die Galle hochkommen". Bei der vielen Arbeit, die in der Vorbereitung geleistet wurde, muß es für jeden ein besonderes Ziel sein, sich unmittelbar vor und im Wettkampf so geschickt zu verhalten, daß er seine Kraft auch in eine möglichst optimale Leistung umsetzen kann. Alle Gefahren und Möglichkeiten müssen durchdacht werden, um Vorsorge zu treffen.

Du kannst den Mißerfolg schon auf dem ersten km programmieren!

Deine Endzeit wird nicht erst mit dem Startschuß festgelegt, sondern Dein Wettkampf beginnt am Morgen des Laufes. Darum diese kurzen, nicht erschöpfenden Hinweise für Dein Verhalten vor dem Start:

Dein Frühstück sollte, wenn der Wettkampf am Vormittag stattfindet, leicht und ballastarm sein. Kein Müsli mit seinen hohen Spelzenanteilen, kein Obst, kein Salat oder Gemüse. Jetzt kommt es nicht mehr auf die Gesundheit an, sondern auf einen unbelasteten Magen und einen leeren Darm. Mach Dich frei von der Ernährungsideologie, denn, wenn Du Dich bis zu diesem Tag nicht optimal ernährt hast, hilft Dir jetzt Dein Müsli auch nicht mehr.

Früh frühstücken!

Du solltest so früh aufstehen, daß Du Dein Frühstück 2 Stunden vor dem Wettkampf verzehrt hast. Angebracht und meistens verfügbar sind Brötchen, Grau- oder Weißbrot (kein Vollkornbrot) mit Butter, Honig oder Marmelade. Danach vielleicht ein bis zwei Riegel Schokolade. Das reicht, Du hast alles, was Du für den Wettkampf brauchst. Als Getränk bietet sich meist Tee an. Viele Athleten brauchen vor dem Wettkampf ihren starken Kaffee, weil sie die Wirkung des Koffeins benötigen. Besser ist es aber, auf den braunen Muntermacher zu verzichten. Kaffee wirkt entwässernd. Einfach ausgedrückt: Bei 3 getrunkenen Tassen verläßt die Menge von vier Tassen den Körper als Urin. Ein unakzeptabler Umstand, wir brauchen dieses Wasser ganz dringend im Wettkampf.

Wer nun auf die Wirkung des Koffeins nicht verzichten will, kann eventuell dieses als Tablette zu sich nehmen und zwar pro 15 kg Körpergewicht 50 mg. Eine Tasse Kaffee enthält 100 - 150 mg Koffein.Ich weise darauf hin, daß erstens Coffein in größeren Mengen als angegeben giftig ist und zweitens bei Dosierung über 50 mg/15 kg Körpergewicht gegen die internationalen Dopingbestimmungen verstoßen wird.

Empfehlen kann ich diese Koffeintabletten wirklich nicht. Wer aber nun wirklich davon nicht lassen kann, der sollte lieber Guarana nehmen. Das ist ein natürliches Mittel, welches auch Koffein enthält und keine Probleme macht. Aber wenn man zuviel davon nimmt, kann man auch über die Doping-Freigrenzen kommen. Hier sollte noch einmal vor der Kumulation von Koffein gewarnt sein. In vielen Nahrungsmitteln ist dieser Anregungsstoff enthalten. Z.B. in Kaffee, Tee, Kakaoprodukten, Cola, Guarana, Power-Gel und viele anderen hier nicht aufgeführten Lebensmitteln.

Das geht unter die Gürtellinie...

Jetzt zu einem Thema, welches im wahrsten Sinne unter die Gürtellinie geht. Ich habe lange gezögert, ob ich diesen Teil hier mit aufnehmen soll. Aber ich möchte ja gerne allen eine echte Hilfe anbieten und die nachfolgend beschriebenen Probleme sind nun einmal da, darum möchte ich sie nicht hinter der Tür mit dem Herzchen verschwinden lassen. Selbst auf die Gefahr hin, daß meine Kritiker behaupten, ich würde über jeden Dreck schreiben.

Wenn Du zu den Personen gehörst, denen im Rennen plötzlich die Augen raustreten, die verzweifelt nach geeigneten Büschen Ausschau halten und fürchterlich stöhnen. Wenn Du Dich schon einmal zu den Unglücklichen gezählt hast, die die dicht an der Strecke stehenden Zuschauer verfluchen, die sich nur eins wünschen, daß der als Tempotabelle auf den Handrücken geklebte Papierschnipsel größer, weicher und von der Marke "Servus" sei, ja dann, dann stehst Du nicht allein. Viele, auch ich, waren schon in diesem Dilemma des Widerstreits von Druck, Schamgefühl, Tempoverlust und Wettkampferfolg. Auch bei deutschen Marathon-Meisterschaften sah ich schon Spitzenathleten und -athletinnen ihren Wettkampf aufgrund von "Darmproblemen" aufgeben.

Druuuck...

Aber, wie alles im Leben, auch der untere Teil unseres Verdauungssystems ist beherrschbar. Ernsthaft habe ich mich mit dieser Frage auseinandergesetzt, als ich bei einem 10000 m Bahnrennen ein nicht aufschiebbares Rühren verspürte. Um nicht disqualifiziert zu werden, durfte ich die Bahn nicht verlassen und war gezwungen, in der Ecke des 100 m Starts eine Verzierung anzubringen. Zu meiner Entschuldigung muß ich angeben, daß es fast dunkel war und sich in der Nähe keine Menschen aufhielten. Das war mir dann aber doch nicht so recht und ich beschäftigte mich in der Folge mit verschiedenen Abführmitteln und das mit "durchschlagendem" Erfolg. So kann ich hier berichten:

100%ig sichere Mittel gibt es nicht! Es ist für Läufer eigentlich alles "Mist", was sich auf dem Markt befindet, mit einer Ausnahme. Und zwar nennt sich dieses Mittel "Microklist" von der Firma Pharmacia. Nach Vorschrift angewendet ist es schlichtweg ideal für unsere Bedürfnisse, problemlos anzuwenden und nicht schädlich. Insbesondere stellt dieses Mittelchen unterwegs meistens keine "Nachforderungen". Zusammen mit einer ballastreichen Nahrungsaufnahme am Tag vor dem Wettkampf und dem ballastarmen Verzehr vor dem Rennen, bist Du das leidige Problem im wahrsten Sinne des Wortes los.

Keine Mineralgetränke und Vitamine

Wenn wir schon bei der Nahrungsaufnahme im weitesten Sinne sind, liegt mir eins ganz besonders am Herzen: Vor dem Wettkampf keine Vitamine und keine dicken Elektrolytgetränke und schon gar nicht irgendeinen Energiedrink. Alles was zu diesem Fomenkreis zählt, ist am Tag vor dem Marathon abzuschließen. Es sei denn, der Wettkampf findet, was selten ist, am Nachmittag oder am Abend statt, dann sind morgens noch Zusätze erlaubt.

Dein Stoffwechsel kann jetzt auf seine Reservestoffe zurückgreifen, die er auch in ausreichender Menge hat. Dazu muß er optimal "anlaufen" Mit diesen "Wundermitteln" verhinderst Du, daß alle Energiestoffe, Hormone, Elektrolyte und Vitamine aus den Speichern in einem eingespielten Verhältnis am richtigen Ort und zum richtigen Zeitpunkt in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Meist helfen diese Zusätze nur Deiner Psyche und der Kasse der Produzenten. Wir alle neigen dazu, speziell, wenn wir nicht optimal in Schuß sind, uns Hilfe in der Ernährung zu suchen. Da wird alles hineingestopft, was geht und was der Markt hergibt. Die Werbung leistet das Ihrige. Wer kein Mineralgetränk schluckt, kommt in die sportliche Hölle. Es wird unterschwellig suggeriert, daß ein Erfolg ohne die nach verdünntem Klebstoff schmeckenden Mineraldrinks rein unmöglich sei. Aber merke Dir bitte als Kernsatz: Leistung und Form kannst Du Dir nur antrainieren, niemals anessen oder antrinken!

Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin nicht grundsätzlich gegen künstlich zugesetzte Mineralien, nur am Wettkampftag, da gieß lieber Deine Blumen damit! Denn z.B. kann überdosiertes Magnesium zu einem Absinken des Muskeltonus führen. In diesem Fall stehst Du mit "Gummibeinen" am Start und weißt nicht wo das herkommt.

Nur Mineralwasser trinken!

Die vorhergehenden Zeilen wurden in 1986 geschrieben. Jetzt sieht die Situation doch schon etwas anders aus. Das Wissen um Vorwettkampfgetränke ist größer geworden und es gibt bessere. Mir scheint, daß im Augenblick das Getränk Ultra Buffer von Ultra Sports, sehr gut für diese Phase geeignet ist. www.greif.de/shop.htm. Vor allen Dingen, weil es auch sehr gut verträglich ist. Ich selbst bleibe immer noch bei Mineralwasser, aber einige von mir trainierte Athletinnen schwören auf das Zeug.

Mineralwasser ist für die meisten von uns immer noch das Mittel der Wahl vor dem Rennen. Es wird sicher vertragen und Wasser ist besonders bei warmen Bedingungen, das woran es uns im Rennen am meisten mangelt. Es scheint aber so zu sein, daß langsamere Läufer (>3:00 h) einen Vorteil durch leicht gesüßte isotonische Getränke hätten.

Bei allen energiereichen Getränken ist immer das Problem, daß sie verdaut werden müssen. Dazu ist Sauerstoff nötig. Dieser wird aber im Rennen dringend in der Muskulatur benötigt. Je besser jemand trainiert ist, desto mehr von seiner maximalen Sauerstoffaufnahme nutzt er zum lennen. Es bleibt ihm immer weniger, um zu verdauen. Der Verdauungstrakt wird kaum noch durchblutet. Das hat zur Folge, daß Getränke und ganz besonders feste Nahrungsmittel kaum noch dorthinkommen, wo sie benötigt werden, nämlich in der Muskelzelle.

Nicht so gut Trainierte, unterschwellig Laufende (z.B. Ultraläufer und Triathleten) und Radfahrer haben immer noch genug Sauerstoff zur Verdauung über. Letztere arbeiten mit einem geringeren Anteil der Gesamt-Muskulatur in ihrem Sport und können niemals die gleichen Sauerstoffmengen nutzen wie ein Läufer.

Ich selbst bleibe wie oben beschrieben beim Wasser, mit allen anderen Getränken habe ich schlechteste Erfahrungen gemacht. Hingegen hat sich das nachfolgende Verfahren der Hyperhydration über Jahre hinaus als überragend gut verträglich und nützlich erwiesen.

Das einzige, was es unmittelbar vor dem Wettkampf gibt, ist Mineralwasser. Und zwar solltest Du 15 Minuten - nicht früher oder später - vor dem Start einen halben bis einen dreiviertel Liter dieses Getränkes zu Dir nehmen. Damit Du gut hydriert in das Rennen gehst, schluckst Du das Wasser "zwangsweise". Das heißt, Du trinkst etwas über den Durst hinaus. (Wer die Kohlensäure nicht mag oder nicht verträgt, kann diese durch Schütteln austreiben). Du hast dann zwar ein Völlegefühl in Deinem Bauch, aber das vergeht schnell und später hilft Dir die Flüssigkeitsmenge ungemein. Die Wasseraufnahme vor dem Wettkampf ist so wichtig, daß Du Dich unbedingt zwingen solltest, diesen Dreiviertelliter zu schlucken, auch wenn es Dir Unbehagen bereitet. Es gibt keine Nachteile, nur Vorteile. Du kommst bei kühlen Bedingungen ohne zu trinken durch und läufst hervorragende Zeiten. Bei allen meinen Rennen, bei denen ich überragend gelaufen bin, trank ich nie. Alte Hasen können das nur bestätigen.

Leider werden Läufer, die über 3 Stunden laufen, in der Regel auch bei kühlem Wetter nicht ohne Getränke auskommen. Auch für sie gilt: Von Anfang an jeder Verpflegungsstelle einen Becher. Wenn Du erst den Durst verspürst, ist es zu spät!

Auch das Argument, daß Du nur schwer starten kannst mit dem vollen Bauch, zieht nicht. In der Regel werden alle Marathonläufe zu schnell begonnen und so hilft das Mineralwasser Dir, angepaßter anzulaufen.

Es zeigt sich immer wieder, daß die Flüssigkeitsmengen, die wir im Rennen aufnehmen können, doch im Verhältnis zum Verbrauch des Körpers sehr gering sind. Wenn Du an jeder Verpflegungsstelle einen Schluck Wasser hinunterbekommst, so wirst Du am Ende nicht mehr als 100 Milliliter geschluckt haben. Im Vergleich zu den mindestens 3000 Milliliter Umsatz während des Marathons ein vernachlässigbarer Prozentsatz. Ich glaube, die positiven Auswirkungen dieses Verfahrens sind zu gering, im Verhältnis zu den Nachteilen, die da sind Zeitverlust, Rhythmusstörung, Gefahr des Sturzes im Gedränge an der Verpflegungsstelle, Verschlucken, Störung der Atmung. Wer internationale Marathons der letzten Jahre verfolgte, hat sicher bemerkt, daß viele Rennen an der letzten Wasserstelle entschieden werden. Das Motto war: Wer trinkt verliert!

Bei Hitzeläufen mußt Du trinken!

Nur bei Hitzeläufen da mußt Du trinken und zwar bei jeder sich bietenden Gelegenheit und nicht nur einen Schluck. Der hilft Dir nicht. Besser sind zwei Becher als einer. Auch hier nur Wasser, keine Mineralgetränke. Wasser klebt nicht, ist gut verträglich und der Rest vom Becher wird zur Kühlung über den Kopf geschüttet.

Abwaschen...

Sehr wichtig ist es auch, daß Du immer einen Schwamm bekommst. Du kannst so das Salz von Deiner Haut abwaschen. Diese Salzschicht behindert die Transpiration. Wenn die Salzkristalle abgespült sind, verdunstet Dein Schweiß besser. Du sparst so eine Menge Flüssigkeit und wirst zudem auch noch optimal gekühlt. Sowie die Temperatur im Rennen über 15 Grad liegt, versuche alles, um immer naß zu sein. Besonders wichtig sind nasse Haare, der kühlende Effekt am Kopf ist besonders groß.

Nun zu dem eigentlichen Lauf. Vor dem Start hast Du Dir sicher überlegt, wie schnell Du laufen willst. Ich weiß, daß alle Marathonläufer zwei Zeiten im Kopf haben. Die, die sie wirklich laufen können und die Traumzeit, die es zu erringen gibt, wenn alles stimmt. Für die meisten Läufer stimmt alles, wenn die Strecke keinen Meter Steigung aufweist, der Wind nicht weht oder nur von hinten und die Temperatur nicht 14,3 sondern 14,7 Grad beträgt. Weiter sollte das Gewicht möglichst wieder so sein, wie zum Zeitpunkt der Konfirmation und die Muskeln so locker, wie am Anfang des zweiten Lebensjahrzehnts.

Muß die Ehefrau(mann) sich zurückhalten?

Die Ehefrau muß sich am Abend vor dem Wettkampf in vornehmer Zurückhaltung geübt haben und der Kohlenhydratanteil der Vorwettkampfernährung sollte 112% betragen. Daß Mond und Sterne in der richtigen Konstellation stehen müssen, versteht sich von selbst. Selbstverständlich darf die schwarze Katze vom Nachbar in der Vorbereitungszeit die Straße nicht von links nach rechts überqueren. Am Start muß richtig Stimmung sein. Richtig viel los, aber nach drei Zehntel Sekunden muß die Linie überschritten sein. An jedem Kilometer eine Verpflegungsstelle und ständiger Zuspruch eines psychologisch geschulten Vereinskameraden ist grundsätzlich Voraussetzung. Die Schuhe müssen gleichzeitig hart und weich sein und der Straßenbelag gebügelt. Ja, wenn das alles zusammenkommt, dann klappt es zu 100%. Oder nicht? Denn bedenke: Holger Meier kann Dir immer noch die Schnürbänder angesägt haben!

Die realistische Zeit

Besser ist dann schon, Du wählst die realistische Zeit, die Du ja meist ziemlich sicher im Kopf hast. Ich empfehle meinen Athleten immer, den ersten Marathon im Jahr erst einmal auf Nummer sicher zu laufen. Dann haben sie später auch eine Zeit, auf die sie bauen können. Mit der Erfahrung des ersten Rennens im Rücken, dem besseren Gefühl für Tempo und Wettkampf ist es viel leichter, die nächsten 42,2 km schneller zu laufen und ein höheres Risiko einzugehen. Denn einmal, da mußt Du auch mal etwas riskieren, mal "auf die Pauke hauen" und Deine Grenzen erforschen. Vielleicht geht es gut. Doch hier möchte ich nur ein Rennen beschreiben, welches ob seiner Gestaltung den größtmöglichen Erfolg mit dem geringsten Risiko bringt.

Wenn es um die Gestaltung des Tempos im Rennen geht, zeigt meine Erfahrung, daß die meisten Athleten ihre Leistungsmöglichkeiten richtig einschätzen können. Bloß mit dem Umsetzen hapert es meist. Da wird sich ganz fest vorgenommen, die ersten 5000 Meter in 22 Minuten anzugehen. Und am Ziel des wieder vergurkten Rennens heißt es dann: "Mann, ich war so locker und es lief so gut, ich habe gar nicht gemerkt, daß ich so schnell war. Aber bei 20 km, da hatte ich schon Probleme. Ich wurde immer langsamer, und dann habe ich mich nur noch gequält". Quälen mußt Du Dich immer. Du kannst Dir ruhig abschminken, jemals locker einen neuen Hausrekord zu erzielen. Du mußt, wenn Du Erfolg haben willst, immer an der Grenze Deiner Leistungsfähigkeit laufen. Wenn diese steigt, wirst Du nur schneller, der Schmerz aber nie kleiner.

Welches Renntempo?

Wie soll denn nun das Tempoverhalten im Wettkampf aussehen? Es hat sich in den Jahren eine Taktik herausgeschält, die sich sehr bewährt hat und eigentlich auch bei den zeitlich erfolgreichen Marathonläufen dieser Welt angewandt wird. Als erstes lege Deine Durchschnittsgeschwindigkeit pro km fest die Du anpeilst. Dann läufst Du:

km Tempo/km
1 - 15 3 s langsamer als geplanter Schnitt
15 - 25 4 s schneller als geplanter Schnitt
ab 25 Körpergefühl kann steuern

Heraus kommt dabei manchmal, daß die zweite Hälfte schneller gelaufen wird als die erste. Besser kann es gar nicht sein, weil das Auf- und Überholen auf dem zweiten Streckenabschnitt eines der motivierensten Dinge ist, welches einen im Marathon passieren kann.

Das blödeste Verfahren – von Tausenden immer wieder angewandt – ist das was nach dem Motto abgeht: Was ich habe, das habe ich. Damit wird das schnelle, in der Regel zu schnelle Angehen auf der ersten Streckenhälfte beschrieben. Jedes andere Rennen kann man mal zu schnell angehen, nur nicht das über die 42,2 km. Das gibt so harte, so schmerzhafte Strafen, wie sie im Sport eigentlich so nirgendwo vorkommen. Wer schon einmal nach 30 km völlig leer war und sich noch bis zum Ziel schleppen mußte, weiß wovon ich rede.

Darum gilt für Dich nur eins: Wenn der Startschuß erfolgt ist, so denke erstens nur eines: Beherrschung! Und zweites: Vorsichtig angehen. Du bist so voller Adrenalin, daß Du losrasen, mit den Assen mitstürmen, und die Sterne vom Himmel holen könntest. Du hast absolut keine Schwierigkeiten, den ersten Kilometer kurz oberhalb Deiner 1000 Meter Bestzeit zu laufen. Nur befindest Du Dich dann voll innerhalb der anaeroben Phase der Energiegewinnung. Schon in diesem Moment ist Dein Mißerfolg programmiert. Die anaerobe Energiegewinnung erfordert etwa 5 mal soviel von Deinem Speicherstoff Glykogen, als das Laufen im Sauerstoffausgleich. Es ist zwar eine Milchmädchenrechnung und stimmt nicht völlig, aber zur Verdeutlichung mag es Dir dienen: Dieser eine, viel zu schnelle Kilometer in der Sauerstoffschuld gelaufen, verbraucht soviel Energie, wie 5 km im angepaßten Tempo. Wenn Du dann bei km 37 gehen mußt, dann kannst Du einmal prüfend zurückschauen, wo denn nun Deine Kraft geblieben ist. Laß sie alle laufen, die normalerweise hinter Dir sind. Laß laufen Deinen besten Kumpel, und wenn Dich eine Dame überholt, nimm es leicht. Du wirst sie alle wiedersehen und das vor dem Ziel.

Ein wichtiger Effekt!

Es gibt noch einen weiteren ganz wichtigen Effekt. Um ein Marathonrennen erfolgreich zu beenden, genügt nicht allein der Kohlehydratstoffwechsel. Wir brauchen dazu auch unseren Fettstoffwechsel. Oder anders gesagt: Fettstoffwechsel streckt Glykogenstoffwechsel. Das schnelle Starten im anaeroben Bereich auf dem ersten km verhindert das optimale Anlaufen der Fettverbrennung durch das Vorhandensein von Laktat im Blut. (Acidose hemmt Lipolyse.) Du hast also eine prima Chance, auf den ersten 1000 m Deines Rennens, alle Arbeit der Vorwochen zu zerstören.

In dieser Anfangsphase des Rennens mußt Du ständig das Gefühl haben, schneller laufen zu können. Du mußt Dich bremsen und noch einmal bremsen. Wenn ich die Geschichte der einzelnen Marathonläufe der Läufer meines Clubs betrachte, so sind sie zu 60% zu schnell begonnen und enden nicht mit dem bestmöglichen Resultat. Ich persönlich schließe mich dabei nicht aus. Mir gingen manchmal auch "die Pferde durch".

In diesem Rahmen kann man natürlich nicht die Siegläufer betrachten. Bei denen herrschen andere Gesetze. Der Siegläufer muß sich nach den Mitgliedern der Spitzengruppe orientieren, in der er läuft. Dies erfordert ganz andere taktische Maßnahmen, als ein Rennen nur gegen die Uhr. Da nun aber fast alle Marathonläufer zu den "Verlierern" zählen, verzichte ich hier darauf einzugehen. Es würde einfach den Umfang dieser Arbeit sprengen.

Erst langsamer...

Wie oben schon beschrieben, verfährst Du mit der Zeiteinteilung am besten so, daß Du bis zum 15. km drei Sekunden langsamer als die geplante Durchschnittszeit läufst. Wenn Du DEINEN Tag hast, dann läufst Du Dich ab diesen Punkt in die Phase des Hochgefühls. Jetzt ist das Rennen am schönsten. Es hat so zwischen 40 Minuten und einer Stunde gedauert, bis alle Deine Systeme auf Hochtouren liefen. Jetzt bist Du glücklich. Dein durch Endorphine - das sind körpereigene Opiate - in einen Rauschzustand versetzter Geist gaukelt Dir unglaubliche Leistungsfähigkeit vor. Du scheinst zu schweben, alles was vorher so hart war, so an Deinen Kräften zerrte, fließt Dir jetzt so einfach zu. Du könntest sie alle wegwischen, niedermachen, Deine Kraft scheint unendlich.

Energie sparen!

In der Tat, Du kannst jetzt etwas schneller laufen. 4 Sekunden pro km sind drin. Deine Muskeln sind locker, die Koordination optimal und Dein Stoffwechsel läuft auf Hochtouren, so daß Du alles in allem bei dem etwas schnelleren Tempo nicht mehr Energie verbrauchst als vorher. Aber bleib verhalten, zieh das Tempo ganz langsam hoch. Mach um Himmelswillen nicht den Fehler, wenn Du jetzt Holger Meier 100 m vor Dir siehst, diese Lücke so schnell wie möglich zu schließen. Denke daran, daß Du noch eine Unmenge Zeit hast, dieses Loch zu schließen. Es reicht aus, wenn Du ihn nach 5 km hast. Lücken werden niemals ruckartig geschlossen, immer langsam und gleitend. Dein vordringliches Ziel muß sein: Energiesparen. Und das kannst Du nur, wenn Du rhythmisch und gleichmäßig läufst.

Wem willst Du auch schon damit imponieren, wenn Du den 100m Abstand auf einen Kilometer zumachst. Deinen Gegner nicht, der sieht Dich erst, wenn Du neben ihm bist und nimmt im Zweifelsfall an, daß Du schon über eine längere Zeit am Ende seiner Gruppe gelaufen bist. Erst in dem Moment, in dem Du zu ihm aufgeschlossen hast, da beginnt Dein taktisches Verhalten. Wenn Du die Kraft und den Mut hast und es Dir besonders darauf ankommt, Meier, diese fiese Type, fertigzumachen, dann kannst Du jetzt mit dem Imponiergehabe beginnen. Du läufst neben ihm, atmest betont ruhig und fragst ihn so artikuliert wie möglich, wie es ihm denn so gehe. Wenn er dann stöhnt: Super! Fragst Du ihn: "Sag mal ist das Tempo nicht ein bißchen niedrig?" Danach trittst Du an, jetzt aber richtig. Es kommt im Augenblick nicht darauf an, wie stark Du bist, sondern für wie stark Dich Dein Konkurrent hält. Mit diesem Verhalten nimmst Du den Kampfeswillen aus seinem Geist, er muß Dich für so stark halten, daß es sich nicht lohnt Dir nachzusetzen. Du bist es vielleicht nicht, aber Du scheinst überlegen. Bloß in welcher Gefahr Du Dich in diesem Augenblick befindest, ist Dir schon klar.

Holger Meier steckt Dich in den Sack

Du kannst Dich übernehmen und einbrechen und er steckt Dich in den schon so sorgsam vorbereiteten Sack. Darum warte lange! Der Zeitpunkt des Beschleunigens kommt. Du mußt Dich und Deinen Körper erst einmal zurückstellen und Dich in ihn hineinversetzen. Lausche auf sein Atmen, höre den Rhythmus seiner Schritte. Der Moment kommt, dann schleichen sich ganz winzige Unregelmäßigkeiten ein, er hustet vielleicht, die Schrittfolge ist gestört. Eine prima Gelegenheit ergibt sich immer an einer Wasserstelle wenn er trinkt. Das ist der richtige Zeitpunkt, jetzt gehst Du auf und davon. Erst einmal legst Du eine Strecke zwischen euch. Hinter der nächsten Straßenecke, wenn Dein Holger Dich nach Möglichkeit nicht mehr sieht, gehst Du runter vom Tempo und versuchst Dich so gut es geht zu erholen. Das klappt, wenn Du es ganz bewußt machst. Sofort danach solltest Du aber wieder in das Tempo vor dem Angriff zurückfallen und die Lücke nach hinten pflegen und ausbauen.

Langsam wird es schwer!

Wenn Du Dich der 25 km Marke näherst, dann läßt so langsam das Hochgefühl nach. Hier mußt Du noch immer relativ locker sein, Du solltest immer noch die Fähigkeit haben, eine Spur schneller laufen zu können. Wenn Du ein Läufer bist, der in der Gruppe derer einzuordnen ist, die zwischen 2:15 und 3 Stunden läuft, gilt folgendes für Dich: Sollte Deine Zwischenzeit hier schon eine Minute über dem fünffachen der ersten 5000 m Zwischenzeit liegen, wird es kein optimales Rennen mehr für Dich. Du kannst damit rechnen, daß Du ab jetzt jeden 5 km Abschnitt um 30 Sekunden langsamer wirst als der vorhergehende. Wenn alles gut geht. Es kann aber auch schlimmer kommen, wie Du weißt. Darum sollte es Dein Bestreben sein, Deine 5000 m Durchschnittszeit möglichst gleichmäßig im Rahmen der beschriebenen Variationen bis zum 25 km Punkt durchzubringen.

Angreifen!

Solltest Du aber hier immer noch locker sein und das Gefühl haben, jeden Kilometer 5 Sekunden schneller laufen zu können, dann greif an. Beschleunige sofort, zögere nicht mehr. Du befindest Dich jetzt in einem psychologischen Idealzustand. Die anderen Läufer fallen jetzt so langsam vom Tempo ab, und Du hast noch die Kraft, kannst "gehen". Wenn Du nun einen nach dem anderen überholst, läufst Du Dich in einen Rausch, da bremst Dich nichts mehr, Du bist auf dem heißen Trip. Zähle ab wie viele Du packst, um Deine Zeit brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen, die wird besser als Du erwartet hast.

Zurück zum normalen Ablauf: Der Abschnitt zwischen 25 und 30 km bringt Dich dem Punkt näher, wo Du mit Deiner vollen Kraft laufen mußt. Wenn Du ein alter Hase bist, kannst Du bei km 30 schon beginnen, Deine Schonhaltung aufzugeben. Jetzt geht es rund! Du machst Druck so gut es geht. Sportler mit weniger als 3 Jahren Marathonerfahrung warten besser noch 5 km und drehen dann voll auf. Du wirst meist mit diesem erhöhten Krafteinsatz nicht schneller, Du verhinderst nur, im Tempo abzufallen. Hier sind nämlich Deine Beine schon vollgepackt mit Stoffwechselprodukten, die nicht mehr abgeführt werden können, die Muskeln sind steif, die Koordination stimmt nicht mehr, der Energieaufwand für jeden gelaufenen Meter nimmt zu. Dein Stoffwechsel muß immer mehr auf seine Fettspeicher zurückgreifen, weil Dein Körper seine Glykogenreserven immer zäher hergibt.

Die Furcht vor der Mauer

Jetzt kommt die Furcht vor dem imaginären Punkt, den alle kennen und nur noch so wenige erleben, die vernünftig angehen. Jeder quatscht davon: Die Mauer bei km 35, der große Einbruch, Glykogen alle, völlig kaputt. Ab da fängt alles erst an! Vom großem Loch tönen sie und Marathon beginnt erst bei km 35. Das ist alles großer Mist und gilt nur für Anfänger, Untrainierte und Leute, die einfach zu schnell anlaufen.

Woher kommt denn nun eigentlich das Gerede von dem Punkt, an dem die Geier auf den Bäumen sitzen sollen. Als der Marathonlauf salonfähig wurde, da waren die Kenntnisse über das spezielle Training für diese Disziplin natürlich noch nicht so gut wie heute. Meist trainierte man für die Bahn und die Athleten, die normalerweise 10000 oder 5000 m liefen, wagten sich dann auch auf die lange Straßenstrecke. Diese Langstreckenläufer lebten in der Regel von ihrer Schnelligkeit und zogen das Intervalltraining vor. Wenn sie einmal mehr als 10 km im Training hintersichbringen mußten, verzogen sie säuerlich das Gesicht und murmelten was von Übertraining. Eine "Quali" brauchten sie nicht, war doch der DLV in vergangenen Tagen nur zu gerne bereit, seine Stars von der Bahn zu einem Start auf der Straße zu verhelfen.

Nur ein kleiner anaerober Anteil reicht!

Die schnellen Leute nickten beifällig, wenn Ihnen zu einem ruhigen Anfangstempo geraten wurde. Im Rennen aber ging die Post so richtig ab, ein kleiner anaerober Anteil am Stoffwechsel - wie beim 10000 m Lauf normal - lief immer mit und so gegen km 35 war das Pulver, sprich Glykogen, verschossen. Hilfreich wäre jetzt ein gut trainierter Fettstoffwechsel gewesen, aber der wird speziell durch ruhige oder sehr lange Läufe trainiert. Diese Einheiten leisteten unsere "Vorläufer" kaum. Und so stiegen die Burschen dann aus, körperlich oder geistig. Letzteres zur Ehrerhaltung mit langsamen Joggen bis zum Ziel verbunden. Im Ziel fluchten die Burschen, "weinten" sich an der Brust des Trainers aus und berichteten ihm, was die böse "Mauer" bei km 35 ihnen angetan hatte. Beim nächsten Kaderlehrgang berichtete dann der Sportlehrer von dem Unglück, welches seinem besten Athleten widerfahren war und er erntete beifälliges Kopfnicken. Danach zog man ins Land und berichtete allen von dem schrecklichen toten Punkt bei km 35, bei dem es bei keinem mehr weitergeht. Der drohende Zeigefinger war von nun an auf alle Starter über 42,2 km gerichtet, wenn von den letzten 7 km der Marathonstrecke gesprochen wurde.

So war das früher, jetzt wissen alle Verantwortlichen, daß man Marathon nicht nur mit Strecken bis zu 25 km trainieren kann. Dennoch hat mir kürzlich (Ende 2000) ein Trainerkollege etwas erzählt, was mich fast von den Beinen holte. Dieser Mann zitierte den damals noch verantwortlichen Marathon-Bundestrainer mit den Worten: "35 km kann man im Training nicht laufen. Danach ist man so kaputt, daß man nicht mehr schnell trainieren kann." Ich kann diese Worte nicht glauben, das kann er nicht gesagt haben. Oder ist das der Grund warum unsere Marathonmänner international nur drittklassig sind?

Kaputt ist jeder!

Noch einmal, ein ordentlich trainierter Marathonläufer läuft nicht gegen eine Mauer, wenn er im Training der Vorbereitung mindestens 6 Läufe über 35 km durchzieht und ein angepaßtes Tempo wählt und schon gar nicht, wenn er zudem mit der Endbeschleunigung arbeitet. Ihm geht es bei km 35 auch wesentlich schlechter als bei km 25, aber ein Loch in diesem Sinne oder einen plötzlichen Einbruch erlebt er nicht. Das heißt nicht, daß er in diesem Bereich noch fit wie ein Turnschuh ist. Nein, kaputt ist dort jeder! Die Ermüdung schreitet nun nicht mehr linear fort, sondern die Kurve des Leistungsverfalls verläuft immer steiler.

Somit werden Deine Schmerzen jetzt immer größer. Du glaubst nicht mehr an das Ende zu kommen. Nur, weil vor Dir jetzt Holger M. läuft, beschleunigst Du noch einmal und machst Meter um Meter gut. Dein Atem pfeift, und Du hast nur diese Wünsche: Ruhen, hinlegen oder wenigstens gehen und wo bleibt das Ziel? Deine Gedanken werden konfuser. Es gelingt Dir nicht mehr, den Streckenverlauf zu rekonstruieren. Hochrechnungen auf die Endzeit mißlingen meist in dieser Phase. Dein Adrenalingehalt im Blut ist jetzt so hoch, daß Du nur noch minimale Leistungen von Deinen Gehirnzellen erwarten kannst. Zu sehr mußt Du jetzt kämpfen.

1983, nach einem Rennen in Frankreich, berichtet mir ein hochintelligenter Clubkamerad, daß er so hart hat kämpfen müssen, daß er über eine halbe Stunde lang angenommen habe, die Marathonstrecke wäre nur 40 statt 42,2 km lang. Die plötzliche Erkenntnis am 40er Punkt, daß noch 2195 m zu laufen waren, hat ihn fast umgebracht und an den Rand der Aufgabe getrieben.

In Berlin geht die schaurig schöne Geschichte um, daß ein früherer deutscher Spitzenathlet mit dem schönen Spitznamen Elvis bei einem Marathon auf dem Weg zum Mommsenstadion nach 40 km in die Einfahrt des S-Bahnhofs Grunewald eingebogen ist, die er für den Weg in das Stadion hielt. In seiner momentan eingeschränkten Urteils- und Denkfähigkeit soll er in der Bahnhofshalle herumgeirrt sein und verzweifelt das Ziel gesucht haben.

Kämpfe mit der letzten Kraft

Wenn es bei Dir auch einmal soweit ist, dann kämpfst Du auch mit der letzten Kraft. Sollten Dir aber auf Anhieb alle wichtigen Familiengeburtstage einfallen, dann kannst Du noch eine Kohle auflegen, Du hast noch Reserven.

In der Nähe des 40 km Punkts kommen die Wellen der Erschöpfung immer häufiger. Über einige 100 m glaubst Du, daß nichts mehr geht, aus, keinen Zentimeter mehr, ich breche zusammen. Du schwörst Dir, daß Du nie wieder mehr Marathon laufen wirst, aus vorbei! Sollen sie doch alle denken, was sie wollen, diese Quälerei machst Du nicht mehr mit. Aber glaube mir, aus diesem Wellental, welches so schwer zu ertragen ist, trägt Dich Deine Psyche wieder nach oben. Du wirst auf dem Kamm getragen. Einige Minuten später läuft es wieder und Dein Optimismus ist wieder da. Ein Umstand, den ich jetzt nach mehr als 60 Marathonläufen immer noch nicht verstehe, aber es klappt wirklich. Du hörst den Lautsprecher der Zieldurchsage, witterst die "Morgenluft". Jetzt rein in das Stadion, wo ist das Ziel, wieviel Meter noch? Beifall empfängt Dich. Du steigerst Dein Tempo, der Beifall wird stärker, die Schmerzen sind vergessen, vergessen die Entbehrungen. Du denkst nicht mehr an die harten Tempoläufe, nicht mehr an die steifen Muskeln und die Erschöpfung nach den langen Läufen. Du siehst nur die Uhr oberhalb des Einlaufkanals, die Sekunden rinnen, ein Glücksgefühl durchströmt Dich. Was wissen die da draußen schon, was Du jetzt fühlst, ein Gefühl, welches nur wir haben, das den anderen verschlossen bleibt. Ein Gefühl welches niemand auf dieser Welt kaufen kann, mag er auch noch so reich sein. Das ist unsere ureigene Erlebniswelt. Du hast es geschafft! Deine Bestzeit, Dein Ziel ist erreicht, es hat geklappt. Eine Gänsehaut läuft Dir den Rücken runter. Die Arbeit, der Einsatz haben sich gelohnt, Du hast es gepackt, Du schluckst und der Beifall der Massen trägt Dich in das Ziel.